Warum Kinder auf Raststätten zu "vergessen" auch keine Lösung ist
„Mama, den Satz kannst du echt nicht so lassen – die Leute werden denken, dass du Kinder nicht magst, weil du überhaupt nur darüber nachgedacht hast. Und ich glaube, lustig ist das auch nicht… Junge Rehe haben übrigens kein Geweih und es gibt Menschen, die das wissen und denken werden, dass du auch davon keine Ahnung hast?“, sprach meine kleine, mittlerweile doch schon ziemlich große, 14-jährige Chef-Monk-Tochter stirnrunzelnd, als sie meine Webseite zum ersten Mal sah – und was heißt hier bitte überhaupt „auch“?
Den Slogan „Warum Kinder auf Raststätten zu „vergessen“ auch keine Lösung ist“ hatte ich schon in meinem Kopf, bevor es Sitz-Kitz gab. Ich weiß noch, dass es gar keinen aktuellen Zusammenhang gab, er war einfach da. Ohnehin bin ich davon überzeugt, dass die besten Werbesprüche genau nicht dann entstehen, wenn Menschen andächtig vor ihrem Computer sitzen und darauf warten, dass ihnen etwas Kreatives einfällt – auch wenn wir jetzt vielleicht besser nicht darüber nachdenken wollen, bei welcher Gelegenheit die längste Praline der Welt, Come in and find out oder „Bin ich schon drin?“ ihren Weg in irgendeinen Kopf gefunden haben. Jedenfalls: Ich mag Kinder, ich liebe sie sogar, also meine eigenen zumindest. Nur damit wir das ein für allemal klar gestellt hätten.
Und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen kenne ich diese Momente. Die, über die kaum jemand spricht, weil du vielleicht selbst kurz erschrocken bist, als dieser Gedanke einfach da war. Aber glaub mir, diese Gedanken kennt jeder (oder fast jeder und fast jede, bitte keine wütenden E-Mails!), der schon einmal länger als eine Stunde mit seinen Kindern auf engstem Raum in einem Auto gesessen hat, denn Eltern sind auch nur Menschen, manchmal sogar Übermenschen.
Gestatten? Kerstin!
Kaffee-Junkie, Kindersitz-Coach und Mama von 7 Kindern. Ja, sieben. In Ziffern: 7. Hat in den letzten Jahren ungefähr so viele Kindersitze gesehen und verglichen wie Stiftung Warentest und der ADAC. Und genauso viele Autofahrten überlebt, bei denen sich mindestens ein Kind darüber beschwert hat, dass der Himmel zu blau ist, die Banane zu gelb und der große Bruder zu ... da. Kennt jeden Rastplatz zwischen hier und überall. Und ja, ich zähle durch. Immer.
Der ganz normale Wahnsinn beim Autofahren mit Kindern, preisverdächtig poetisch
Ihr sitzt seit eineinhalb Stunden im Auto. Die Klimaanlage kämpft gegen 32 Grad – und verliert. Deine Haut klebt am Sitz, dein Rücken ist nass, dein Geduldsfaden mittlerweile dünner als das Toilettenpapier am Rastplatz, das du sowieso nie verwenden würdest, weil … lassen wir das. Hinter dir eskaliert zum vierten Mal der Streit darüber, wer wen zuerst blöd angeschaut hat. „Der guckt schon wieder!“, „Mama, sie atmet SO LAUT!“, „Wann sind wir endlich da?“, „Du hast zuerst geguckt!“, „Maaamaaaaa!!“ Der Große hat Hunger, die Kleine muss aufs Klo, jedes Kind im Auto muss sowieso ständig aufs Klo. Außer das Sandwichkind. Das weint, weil die Banane zu gelb ist.
Du spürst, wie sich deine Finger ums Lenkrad krallen. Diese eine Vene an deiner Schläfe, die nur bei Autofahrten mit Kindern pulsiert oder wegen dem schleichenden Arschloch Menschen da vorne, wegen dem du gerade sogar den Genitiv ausfallen lässt, pocht wie ein Metronom der Verzweiflung. Dein Kiefer ist so angespannt, dass dein Zahnarzt beim nächsten Termin eine Beißschiene empfehlen wird. Und das Schlimmste? Du kannst nicht raus. Ein Auto ist nicht wie Zuhause, wo du kurz zur Toilette flüchten kannst oder „ganz dringend“ den Müll rausbringen musst. Im Auto bist du gefangen. Auf einem Meter 80 mal vier Meter 50 mit diesen kleinen Menschen, die du – eigentlich – über alles liebst und die dich genau jetzt in den Wahnsinn treiben.
Dann endlich: der Rastplatz. Du parkst. Du atmest. Du hoffst. Sie sollen endlich aussteigen. Dein Ältester trödelt. Die Jüngste findet ihre Schuhe nicht, die sie ganz überraschend an den eigenen Füßen trägt. Dein Sandwichkind will JETZT SOFORT auf die Toilette, die Jüngste blockiert aber die Tür, weil sie mittlerweile zwar ihre Schuhe gefunden hat, aber das Stofftier sucht.
Endlich steigen sie aus. Du zählst bis zehn. Dann bis zwanzig. Jetzt gibst du auf und starrst einfach nur auf den Parkplatz. Auf die weißen Linien auf dem grauen Asphalt. Auf die flimmernde Hitze. Auf die Lastwagen und auf das Nichts, das sich ganz kurz wie eine Pause anfühlt. Und dann ist er da, dieser Gedanke, ganz kurz und ganz finster: „Wenn ich jetzt einfach losfahren würde…“
Du würdest es nie tun. Natürlich nicht – aber für eine winzige Millisekunde verstehst du, warum dieser Gedanke existiert. Und das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen, das macht dich zu einem ganz normalen Elternteil am Limit. Weil Liebe manchmal nicht leise ist, sondern unfassbar laut, klebrig und voller Streit um den oder die, die zuerst geguckt hat. Aber zwischen diesem einen schlimmen Gedanken und der Realität liegt eine Grenze. Eine wichtige. Denn manchmal passieren Dinge, die niemand beabsichtigt hat. Manchmal vergessen Menschen tatsächlich ihre Kinder. Auf Rastplätzen oder im Auto. Und manchmal und das ist das, worüber wir jetzt reden müssen, endet das tragisch.
Vergessen Eltern ihre Kinder wirklich am Rastplatz?
Vergessen Eltern ihre Kinder wirklich am Rastplatz? Die kurze und bittere Antwort ist: Ja. Und das sogar häufiger als du vielleicht glaubst.
Und ja, wahrscheinlich gibt es leider auch die Einzelfälle, bei denen Eltern ihr Kind nicht ganz unabsichtlich „vergessen“, aber das sind bei weitem nicht alle.
Bei meiner Recherche nach solchen Fällen bin ich auf hunderte Berichte gestoßen. Glaubst du nicht? Teste es gerne selbst und frag einfach mal Google oder den oder die, die du sonst so etwas fragst, du wirst genauso überrascht sein wie ich.
Ups, wo ist mein Kind? Eine Chronologie des Vergessens
- August 2025, A8 bei Holzkirchen in Bayern, ➞ Kosmo.at
Die Familie fährt zum Tanken an die Raststätte ab, eines der Kinder geht zur Toilette, das zweite bleibt schlafend im Auto. Nach dem Bezahlen steigen alle wieder ein. Glauben die Eltern zumindest. Sie fahren weiter und bemerken erst 30 Minuten später, dass sie den 10-jährigen am Rastplatz vergessen haben. - August 2025, Italien, ➞ Schwäbische
Ein französischer Vater fährt zur Raststätte, steigt aus und holt sich einen Kaffee. Während er den Kaffee bezahlt, steigen die beiden Töchter (8 und 10 Jahre alt) unbemerkt aus. Er kommt zum Auto zurück und fährt los – ohne dabei noch einmal in den Rückspiegel zu schauen. Erst 100 Kilometer später bemerkt er, dass er alleine ist – und das nur deshalb, weil ihn die Polizei anruft, die vom Mitarbeiter der Raststätte informiert worden war. - August 2025, A3 bei Lupburg, ➞ t-Online
Die Familie ist auf dem Rückweg nach England, als sie um 4 Uhr nachts an einem Parkplatz Halt macht. Der 14-jährige Sohn steigt aus, aber – unbemerkt von den Eltern – nicht wieder ein. Das Kind hat kein Handy dabei, findet aber einen aufmerksamen Autofahrer, der die Polizei informiert. Als diese die Eltern anruft, haben diese ihren „Verlust“ bereits bemerkt und sind bereits auf dem Rückweg zum Parkplatz, wo sie 2,5 Stunden später eintreffen. - Juli 2024, A13 bei Radeburg, ➞ MDR
Ein 6-jähriger steht weinend am Rastplatz Finkenberg, sein Vater war nach einem Zwischenstopp versehentlich ohne ihn weitergefahren. Die Polizei tröstet den Kleinen mit ihrem Tröste-Teddy bis der Vater kurz später eintrifft und seinen Sohn sichtlich erleichtert wieder in seine Arme schließt. - April 2021, A93 bei Grunau, ➞ Oberpfalz-Echo
Die Familie des 6-jährigen Dennis ist auf dem Weg zur Oma. Dennis döst mit seiner übergestülpten Jacke im Kindersitz. Auch seine Mutter schläft zu dem Zeitpunkt, an dem Vater und Sohn am Parkplatz kurz aussteigen und zur Toilette gehen. Beim Aussteigen legt Dennis die Jacke ordentlich über den Kindersitz. Der Vater geht nach dem Toilettengang zum Auto zurück, steigt ein und fährt los. Er hatte nicht mitbekommen, dass Dennis noch Blumen für seine Mama pflücken wollte. Niemand bemerkt Dennis‘ Fehlen bis seine Mutter aufwacht und unter der Jacke nach ihrem Sohn sucht. Dennis hat Glück: Ein Mann entdeckt ihn und ruft die Polizei, die ihn mit Teddy, Bastelmaterial und Spielzeug ablenkt bis die Eltern ihn wieder abholen. - August 2011, A5 bei Freiburg, ➞ Stuttgarter Nachrichten
Ein 8-jähriger Junge steigt am Rastplatz unbemerkt aus, die Eltern fahren mit seiner schlafenden Schwester weiter. Ein älteres Ehepaar informiert die Polizei und diese die Eltern, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bemerkt haben, dass das Kind fehlt.
Und ich hätte hier noch viele weitere Beispiele auflisten können.
Menschen vergessen ihren Schlüssel, sie vergessen ihre Geldbörse, sie vergessen einen Arzttermin – bei alledem würden wir sagen: Okay, gut, das ist menschlich, das ist mir selbst auch schon passiert.
Wenn Eltern ihr Kind irgendwo vergessen, sagen wir: „Das würde mir nie passieren“, „Das ist völlig verantwortungslos“, „Wer sein Kind liebt, würde es nie vergessen“, „Die Eltern haben das Kind nicht vergessen, das war Absicht“ oder „Also, ich würde ja nie, also wir machen ja immer“…
Was glaubst du, hätten die Eltern aus meinen Beispielen gesagt, wenn du sie vor diesem Vorfall gefragt hättest, ob sie sich vorstellen können, ihr Kind einmal irgendwo zu vergessen? Genau: das Gleiche. Es ist fernab unserer Vorstellungskraft, so etwas Wertvolles wie unser eigenes Kind zu vergessen. Und trotzdem passiert es fast jeden Tag, überall und nirgendwo und der Grund ist nicht, dass diese Eltern ihre Kinder nicht lieben.
Das Muster hinter dem Vergessen: Wenn dein Gehirn einfach abschaltet
Ist dir etwas aufgefallen? Wenn wir die Fälle aus der Chronologie und weitere übereinanderlegen, sehen wir ein paar Muster, die erklären, wie dieser schreckliche Fehler jedem Elternteil passieren kann:
- Die Annahme der Vollzähligkeit: Zwei von drei Kindern sitzen schon im Auto. Laut. Streitend. Unüberhörbar da. Dein Gehirn rechnet: Geräusch wie sonst auch = alle da. Dass das dritte Kind noch auf der Toilette ist? Fällt unter den Tisch. Die Psychologie nennt das Confirmation Bias: Unser Gehirn sucht nach Hinweisen, die bestätigen, was wir glauben: nämlich dass alles in Ordnung ist.
- Die mentale Fixierung auf die dringende Aufgabe oder „Der Pipi-Tunnelblick“: Du suchst seit vielen Kilometern eine Toilette. Es wird immer dringender. Im Kopf nur noch: Endlich Rastplatz finden, Pipi, weiterfahren. Die dringende Aufgabe (Toilette/Tanken) überschattet alles andere. Wenn sie erledigt ist, schaltet dein Gehirn sofort auf „Geschafft 🠒 Weiter!“ ohne die Zwischenaufgabe „Alle Kinder einpacken“ bewusst abzuhaken. Die Erleichterung („Endlich wieder auf der Autobahn!“) löscht die mentale To-Do-Liste. Hauptsache schnell weg hier.
- Du hattest einen Plan: In deinem Kopf hast du den Ablauf schon 3x durchgespielt: Parken, Kinder aus dem Auto holen, Toiletten-Logistik, tanken, bezahlen, alle wieder einpacken, weiterfahren. Du gehst mit den Kindern zur Toilette, du tankst, du bezahlst, du läufst zum Auto und jemand spricht dich an. Der ältere Herr, der nicht mehr gut auf den Beinen ist, fragt dich, ob du weißt, wo die Toilette ist. Weißt du natürlich, denn du warst gerade erst selbst dort und erklärst geduldig, wo die Toilette zu finden ist, begleitest den Mann sogar noch ein kleines Stück, gehst wieder zurück zum Auto und fährst los. Ups – hast du nicht jemanden vergessen? Auch wenn feste Handlungssequenzen durchkreuzt werden, kann dein Gehirn wichtige Schritte (oder Familienmitglieder…) vergessen.
- Die Tücke der geteilten Verantwortung. Passiert leider auch manchmal beim Schwimmen am See oder auf Familienfeiern. Papa denkt, Mama hätte nachgeschaut. Mama denkt, Papa hätte aufgepasst. Das nennt sich Verantwortungsdiffusion. Der entscheidende Sicherheits-Check „Ist auch wirklich jeder wieder drin?“ bleibt auf der Strecke. Geteilte Verantwortung wird zu keiner Verantwortung, weil jeder denkt, der andere hätte… Passiert übrigens auch bei Busfahrten. Wenn niemand zählt, gehen alle davon aus, dass schon jemand anderes bemerkt, wenn jemand fehlt.
In diese Fallen kann dein Gehirn tappen, obwohl die Situation an sich harmlos ist. Nicht eingerechnet sind Momente, in denen du nicht bei dir bist, weil du seit Tagen kaum geschlafen hast, weil deine Mutter im Sterben liegt, der Druck auf der Arbeit dich auffrisst oder weil deine Gedanken immer wieder bei deiner Freundin sind, die in ihrem Leben nicht weiter weiß. In solchen Augenblicken läuft der Autopilot, während du innerlich ganz woanders bist.
Mein Tipp für die Rastplatz-Situation: Zähle immer laut durch, bevor du losfährst. Mach es zu deiner festen Routine, dass sich alle Kinder beim Einsteigen melden. Und wenn ihr zu zweit seid: Sprecht euch ab, wer dafür verantwortlich ist, dass immer alle an Bord sind.
Wenn du dein Kind nicht auf dem Rastplatz vergisst, sondern im heißen Auto
Kinder auf Rastplätzen zu vergessen, geht meistens zum Glück glimpflich aus. In allen Berichten, die ich verlinkt habe, kamen die Eltern erleichtert zurück und holten ihre Kinder ab. Sicher, je nach Alter und Temperament ist die Situation für das Kind sehr belastend und für dich als Elternteil furchtbar unangenehm, aber es gibt eine Form des Vergessens, die leider noch viel gefährlicher ist: Das eigene Kind im Auto zu vergessen, wo die Hitze innerhalb kürzester Zeit zur tödlichen Falle werden kann. Und die Mechanismen dahinter sind beinahe dieselben – genau wie die „Mir würde sowas nie passieren“-Vorurteile.
Das Forgotten Baby Syndrome und die erschreckenden Fallzahlen
Laut der US-Organisation NoHeatStroke.org sind seit 1998 in den USA 1.039 (!) Kinder (Stand 30.09.25) im Auto gestorben, weil sie vergessen wurden. Im Jahr 2024 waren es 39 Kinder. Das sind keine Einzelfälle. Und bevor du denkst „Das passiert nur in den USA“, auch in Europa sterben regelmäßig Kinder den Hitzetod im Auto.
Als „Forgotten Baby Syndrome“ (Vergessenes-Baby-Syndrom) wird das Phänomen bezeichnet, bei dem Eltern oder andere Betreuungspersonen ihre Kinder unbeabsichtigt in Fahrzeugen zurücklassen, leider häufig mit tödlichen Folgen durch Überhitzung. Es handelt sich nicht um eine psychiatrische Diagnose, sondern um einen Begriff für ein Muster menschlichen Versagens unter Stress.
Tragische Hitzetod-Fälle in Europa
Leider habe ich bei meiner Recherche eine große Anzahl an Fällen gefunden, bei denen Eltern auch bei uns in Europa ihre Kinder im Sommer im Auto vergessen haben. Neben den Fällen, in denen die Babys und Kinder an Überhitzung und Dehydrierung gestorben sind, gibt es noch deutlich mehr Kinder, die dank aufmerksamer Passanten rechtzeitig gerettet werden konnten. Diese Kinder sind tragisch verstorben:
- Juli 2025, Spanien, ➞ Mallorca Magazin
Ein etwa 2-jähriger Junge stirbt an einem Hitzeschlag, nachdem sein Vater ihn im Auto vergessen hatte. Der Vater sollte ihn zur Kita bringen, fuhr aber zur Arbeit. - Juni 2025, Frankreich, ➞ T-Online
Ein 2-jähriger Junge stirbt, nachdem sein Vater ihn stundenlang im geparkten Auto auf dem Firmenparkplatz (Luftwaffenstützpunkt) vergessen hatte. Der Mann wollte den Jungen zur Kita bringen. - Juli 2024, Italien, ➞ ZDF
Ein Mann vergisst seine 1-jährige Tochter im Auto und bemerkt den Fehler erst nach mehreren Stunden, als er in die Mittagspause will. Das Kind stirbt an Überhitzung. - Mai 2024, Frankreich, ➞ T-Online
Ein Vater vergisst sein Kleinkind auf dem Rücksitz und geht zur Arbeit. Erst am Abend, als die Mutter das Kind aus der Krippe abholen will, wird das Versäumnis bemerkt. Das Auto hat sich bei 22 Grad Außentemperatur auf bis zu 47 Grad erhitzt. - Juni 2023, Deutschland, ➞ Presseportal, Polizeipräsidium Mittelhessen
Ein 37-jähriger Vater vergisst seinen Sohn versehentlich auf einem Parkplatz in einem Industriegebiet in Wettenberg im Auto. Das 18 Monate alte Kind stirbt an Überhitzung. - Juli 2022, Frankreich, ➞ Euronews
Ein Vater vergisst, sein 14 Monate altes Kind in der Krippe abzugeben und fährt zur Arbeit. Erst als die Mutter das Kind am Nachmittag abholen will, bemerken sie, dass es den ganzen Tag im Auto verbracht hat. Das Kind ist beim Auffinden bereits tot. - August 2018, Mallorca/Spanien, ➞ Mallorca-Magazin
Ein Vater will sein Kind zur Kita bringen, fährt aber stattdessen zur Arbeit und vergisst sein 10 Monate altes Kind im Auto. Der Junge stirbt an einem Hitzschlag.
Warum vergessen Eltern ihre Kinder im Auto?
Auch bei diesen Berichten können wir wieder Muster erkennen. Der ➞ US-Psychologie-Professor David M. Diamond forscht seit über 20 Jahren zu diesem Phänomen. Seine Erkenntnis: Es kann JEDEN treffen. Die Faktoren: Stress, Schlafmangel, veränderte Routinen und Ablenkung.
Gehirn auf Autopilot - Der Autopilot-Modus
Diamonds Erkenntnis: Unser Gehirn arbeitet oft im sogenannten „Autopilot-Modus“. Bei Routinefahrten schaltet das sogenannte Gewohnheitsgedächtnis ein. Wenn dann eine Routineänderung dazukommt (normalerweise fährt Papa zur Arbeit, heute soll er aber das Kind in die Kita bringen), kann das Intentionsgedächtnis versagen.
Und ich bin sicher, du kennst so eine Situation auch: Du fährst Auto, bist in Gedanken, und plötzlich stehst du vor deiner Haustür und denkst: Moment, wie bin ich hierher gekommen? Bin ich wirklich gerade durch den letzten Ort gefahren? An welcher Ampel stand ich? Und du hast keinerlei bewusste Erinnerung mehr an die letzten 20 Minuten Fahrt.
Darf ich vorstellen? Das ist der Autopilot. Dein Gewohnheitsgedächtnis hat übernommen. Du bist sicher angekommen, hast alle Regeln befolgt, aber dein bewusstes Gehirn war in der Zwischenzeit woanders. Und genau da liegt die Gefahr, denn das Gehirn spielt uns einen Streich: Es bildet eine falsche Erinnerung daran, das Kind wie gewohnt abgegeben zu haben. Die Routine „Fahrt zur Arbeit“ läuft ab, nur dass das Kind noch im Auto sitzt.
Umstände des Vergessens im Auto
NoHeatStroke führt eine traurige Statistik darüber, aus welchen Gründen Kinder in Autos am Hitzetod sterben mussten. Auf das Ergebnis kommen sie bei der Auswertung von über 1000 Todesfällen zwischen 1998 bis 2024:
- 52,6% der Fälle: Die Eltern haben das Kind unbeabsichtigt im Auto vergessen
- 23,8% der Fälle: Das Kind kletterte selbst unbemerkt ins Auto
- 21,8% der Fälle: Die Eltern ließen das Kind absichtlich kurz zurück, zum Beispiel beim Einkaufen, und unterschätzten die Gefahr der Hitze
- 1,9% der Fälle: Ursache unbekannt
Mehr als die Hälfte der Kinder ist zum Zeitpunkt ihres Todes unter zwei Jahre alt.
Kinder im heißen Auto - so schnell droht der Hitzetod
Eltern unterschätzen die Hitze im Auto jedes Jahr neu. Vielleicht kennst du das auch: Ab April oder Mai häufen sich die Meldungen über Kinder, die aus dem überhitzten Auto gerettet werden mussten.
Der ADAC hat ➞ 2017 und 2021 die Hitze-Entwicklung im Auto gemessen – mit erschreckenden Ergebnissen:
In der Mittagssonne (26,8° C) heizt sich der Fahrzeug-Innenraum bereits nach 30 Minuten (!) auf über 50° C auf, nach 60 Minuten sind es sogar 57,1° C – lebensgefährliche Temperaturen für Babys, Kinder und Erwachsene.
Kinder sind besonders gefährdet, sie schwitzen weniger und können ihre Körpertemperatur deshalb schlechter selbst regulieren. Zudem haben sie eine höhere Stoffwechselrate und produzieren mehr Wärme. Je jünger das Kind ist, desto höher sind die Risiken, am Hitzetod zu sterben.
Lass dein Kind aus diesem Grund niemals – auch nicht für ein paar Minuten – alleine im Auto. Schon eine Außentemperatur von 20°C reicht aus, damit sich die Temperatur im Fahrzeuginneren auf 46° C erhöht, es besteht Lebensgefahr!
Das gleiche gilt natürlich auch für Haustiere. Es reicht nicht aus, das Fenster einen Spalt geöffnet zu lassen.
Auch das hat der ADAC getestet, sogar mit zwei geöffneten Fenstern, du kannst dir das im Video zum Hitze-Test 2017 ansehen:
Hitze-Warnsysteme in Kindersitzen und im Auto
Und wie kannst du dafür sorgen, dass du dein Kind im Sommer nicht versehentlich im Auto vergisst?
Nach mehreren tragischen Todesfällen hat Italien 2019 als erstes europäisches Land reagiert und Alarm-Sensoren für Kindersitze zur Pflicht gemacht. Hättest du es gewusst? Du kannst auch in Deutschland Sensor-Systeme (z. B. Cybex SensorSafe) oder Matten (z. B. Axkid ConnectPad) für Kindersitze oder ganze Kindersitze mit Alarm-Systemen (➞ BeSafe iZi Twist und Turn M) kaufen, die dich mit einer Nachricht oder einem Anruf daran erinnern, dass dein Kind noch im Auto sitzt. Diese Technik ist schon seit einigen Jahren verfügbar und bezahlbar, eine Nachfrage ist allerdings kaum vorhanden. Warum ist das so? Weil das Thema nach wie vor unterschätzt wird, denke ich.
In Fachkreisen tut sich allerdings auch international einiges: Die Fachgruppe CLIV (➞ Children Left in Vehicles) arbeitet für die UNECE an einer globalen Regelung für sogenannte Child Presence Detection-Systeme (CPD). Das sind Sensoren im Auto, die erkennen, ob ein Kind im Fahrzeug zurückgeblieben ist und dann Alarm schlagen.
Außerdem übt der Euro NCAP über sein Fahrzeug-Bewertungssystem Druck auf die Autohersteller aus. Seit 2023 erhielten Fahrzeuge mit CPD-Systemen Extra-Punkte, seit 2025 erhält ein Fahrzeug nur dann diese Punkte, wenn eine direkte Erkennung des Kindes stattfindet. Was heißt das? Indirekte Systeme schließen aus der Logik des Fahrzeugverhaltens, dass ein Kind im Auto sein könnte (Tür öffnet sich oder nicht), direkte Systeme erkennen das Kind wirklich, zum Beispiel anhand von Bewegung, der Atmung oder des Herzschlags.
So überlistest du deinen Autopiloten
Und wie kannst du dich gegen deinen eigenen Autopiloten schützen? Der wichtigste Punkt: Du weißt jetzt, dass es ihn gibt. Das ist dein bester Schutz.
Tipps, um dich und dein Kind vor einem versehentlichen Vergessen zu schützen:
- Erkenne an, dass es auch dir passieren kann,
- Sei besonders aufmerksam, wenn sich etwas an deinem Alltag ändert (Papa bringt Kind zum Kindergarten statt Mama oder umgekehrt),
- Wenn du magst: Setz dir einen Handy-Alarm „Kind abgegeben?“,
- Leg deine Handtasche, den Rucksack und/oder das Handy mit auf die Rückbank zum Kind und zu guter Letzt:
- Klingt profan, ist aber wirksam: Sprich mit deinem Nachwuchs und kündige an, dass ihr gleich da seid. So kommunizierst du nicht nur mit deinem Kind, sondern erinnerst auch dein Gehirn daran, dein Kind in der Kita abzugeben
Und wenn nicht du, sondern jemand anderes ein Kind oder ein Tier im Auto vergessen hat?
Das tust du, wenn du ein Kind oder ein Tier in einem heißen Auto entdeckst
Wenn du an einem warmen Tag ein Baby, ein Kleinkind oder auch einen Hund alleine in einem geschlossenen Auto siehst, geh nicht achtlos daran vorbei, sondern schreite zur Tat:
- Versuche, ruhig zu bleiben!
- Versuche, die Eltern oder die Betreuungsperson ausfindig zu machen. Steht das Auto auf dem Parkplatz eines Geschäfts, kannst du den Halter oder die Halterin ausrufen lassen. Dies gilt natürlich nur, wenn das Kind oder das Tier noch nicht in akuter Lebensgefahr schwebt.
- Kannst du niemanden ausfindig machen? Wähle den Notruf und folge den Anweisungen der Rettungskräfte.
- Besteht akute Lebensgefahr für den Fahrzeuginsassen, z. B. wenn Mensch oder Tier nicht auf dein Rufen oder Klopfen reagieren, musst du – im Idealfall mit Zeugen – handeln und die Scheibe des Fahrzeugs einschlagen, um Mensch oder Tier zu retten. In einer Notsituation darfst (Stichwort rechtfertigender Notstand, § 34 StGB) und musst du die Scheibe einschlagen, am besten mit einem Stein oder einem Rettungswerkzeug wie dem ResqMe.
Um noch einmal den Bogen zum Anfang zu spannen: Wenn du das nächste Mal an einem Rastplatz stehst, erschöpft und genervt bist und dieser eine dunkle Gedanke auftaucht, dann atme tief durch. Du bist nicht allein. Du bist ein Mensch und am Limit.
Und jetzt bist du außerdem jemand, der weiß, wie schnell uns unser Gehirn einen Streich spielen kann. Deshalb: Bitte einmal durchzählen, bevor du gleich wieder losfährst. Gute Fahrt! 💜
Babys bis ca. 1,5 Jahre
Babyschalen sind der erste Kindersitz im Leben deines kleinen Wunders und begleiten euch meist vom Krankenhaus nach Hause bis zum Alter von 0,5 bis 1,5 Jahren.
Kinder bis ca. 7 Jahre
Auf die Babyschale folgt der Reboarder, der Kindersitz, in dem dein Kind weiterhin rückwärts sitzt und so deutlich sicherer im Auto unterwegs ist.
Ab 4 Jahren bis ca. 12 Jahre
Folgesitze sind die "großen" Kindersitze für Schulkinder bis 150 cm, in denen dein Kind vorwärts sitzt und nur noch mit dem Autogurt gesichert ist.