Die Geschichte des Reboarders: Von Aldman, Ottosson und Volvo, dem schwedischen Plus-Test 🇸🇪, R 44 und 129, ABBA und Heino 🎶
- Artikel von: Kerstin
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Diese Seite hier ist mein Bonus-Kapitel. Warum Bonus? Weil wir jetzt nach alledem, was wir in den letzten Kapiteln über Reboarder gelernt haben, mit dem Mitdenken aufhören können und einfach ein bisschen lesen, Bilder anschauen und in der Vergangenheit schwelgen. Es folgt: Die Geschichte des Reboarders – mit kleinen Unterbrechungen und Abschweifungen in Zeiten, in denen so wenige Autos auf den Straßen unterwegs waren, dass noch niemand ernsthaft über Kindersicherheit im Auto nachdenken musste. Wir reisen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis ins aktuelle Jahr, wir biegen manchmal links ab und manchmal auch rechts und wir begegnen neben vielen Pionieren auch Heino, ohne den die Geschichte des Reboarders nur halb so gut geworden wäre.
Dieser Artikel hier steht seit über 10 Jahren auf meiner „Dazu will ich unbedingt noch einmal recherchieren und schreiben“-Liste und falls du das hier lesen kannst, habe ich es endlich geschafft! 😁
Die Geschichte des Reboarders: Von der NASA zum sichersten Kindersitz der Welt
Das merkwürdige Zeitgefühl: Wie jung unsere Sicherheit noch ist
Wusstest du, dass die Gurtpflicht in Deutschland erst 1976 eingeführt wurde und die Kindersitzpflicht sogar erst seit 1993 gilt?
Und trotzdem hast du, genau wie ich, wahrscheinlich das Gefühl, dass es beides schon immer gegeben hat. Verrückt, wie sehr uns unser Zeitgefühl austrickst, oder?
Menschen, die heute 60 sind, haben ihre komplette Kindheit einfach so im Auto verbracht – ohne Gurte, ohne Kindersitze und ohne ein Gefühl von Unsicherheit. Sie sprangen auf der Rückbank, tauschten während der Fahrt die Plätze, rutschten beim Bremsen nach vorne und teilten sich zu zweit den mittleren Sitz. Manchmal landete ein Kind sogar im Kofferraum. Familien tuckerten mit vollgepacktem Auto nach Italien, Kinder ohne Gurt auf der Rückbank, mal quer, mal längs, mal im Fußraum. Das war völlig normal. Und als später die Gurtpflicht drohte, wurde protestiert und als sie dann wirklich kam, fuhren viele wie vorher, als hätte sich nichts geändert.
der Aufschrei. Es gab einen regelrechten Kulturkampf, als würde der Staat den Deutschen ihr liebstes Hobby verbieten. Die Argumente der Gurtgegner waren so kreativ wie verrückt: Frauen hatten Sorge, die Brust würde platt gedrückt und das Kleid knittern, Männer argumentierten, dass sich nur Angsthasen anschnallen und hatten dabei selbst Angst um ihr faltenfreies Hemd. Man fürchtete, bei einem Unfall nicht schnell genug aus dem Auto zu kommen und durch den Gurt stärker verletzt zu werden als durch die Scheibe, durch die man ohne ihn flog. Der Spiegel titelte gar "Gefesselt ans Auto" (50/1975), als wäre der Gurt eine mittelalterliche Foltervorrichtung, aus der es kein Entkommen geben sollte. Und das Kurioseste daran: Bei Umfragen fanden 90 Prozent der Deutschen den Gurt theoretisch gut und sinnvoll, praktisch nutzen wollten ihn dagegen nur 10 Prozent.
Die Regierung war ratlos und wurde kreativ: 8 Millionen D-Mark pumpte das Verkehrsministerium 1974 in Werbekampagnen. Die Slogans: "Klick. Erst gurten, dann starten!", "Könner tragen Gurt", "Oben mit ist besser" - die Phantasie war grenzen- und leider auch wirkungslos. Dazu kamen spektakuläre Crash-Tests in der ARD-Sendung "Der 7. Sinn" mit echter Schock-Wirkung. Autos wurden zu Schrott gefahren und die sonore Stimme von Egon Hoegen warnte eindringlich vor den Gefahren. Das Ergebnis nach all der Mühe und dem vielen Geld? Die Anschnallquote stieg auf magere 40-60 Prozent. Die Lösung kam 1984 und sie war simpel: 40 DM Bußgeld (~ 20 €) wirkten fast über Nacht und wenige Monate später schnallten sich 92 Prozent aller Deutschen an.
Doch bevor wir uns weiter durch die 80er Jahre hangeln, machen wir einen kurzen Zeitsprung zurück, denn um zu verstehen, warum Kindersicherheit im Auto so lange niemanden interessierte, müssen wir in eine Zeit reisen, in der Autos noch knatterten, Straßen aus Schotter bestanden und Tempo 30 noch richtig schnell war.
Um zu verstehen, warum erst in den 1960ern jemand an echte Kindersicherheit dachte, schauen wir uns erst einmal an, wie sich das Autofahren entwickelt hat:
Du siehst: Erst als das Auto populär wurde und Straßen besser ausgebaut waren, stiegen die Unfallzahlen, sodass sich immer mehr Menschen Gedanken um die Sicherheit machten.
1930 Die ersten „Autokindersitze“ – eine ganz andere Zeit
Was mich bei meiner Recherche wirklich überrascht hat? Die ersten Autokindersitze gab es schon in den 30er Jahren! Damals ging es allerdings noch nicht um den Schutz der Kinder, sondern hauptsächlich darum, dass die Kleinen besser aus dem Fenster schauen konnten und während der Fahrt nicht herumturnten!
Kindersitze waren reine Komfort-Lösungen: Einfache Holzstühle oder Kissen, mit denen die Kinder höher saßen. Erst als die Autos später immer schneller wurden und mehr Unfälle passierten, merkten Pioniere wie Jean Ames und Leonard Rivkin, dass Kinder einen echten Schutz brauchen.
1959 Die technische Grundlage: Nils Bohlin und der Dreipunktgurt
Bevor wir uns den Pionieren der Kindersicherheit widmen, müssen wir aber noch über eine Erfindung sprechen, die das alles überhaupt erst möglich gemacht hat: den Dreipunktgurt. 1959 entwickelte Volvo-Ingenieur Nils Bohlin das System, das wir heute in jedem Auto finden: Den Gurt, der diagonal über Brust und Becken verläuft – ein Meilenstein der Fahrzeugsicherheit!
Warum das wichtig ist? Weil ohne diesen Gurt auch die besten Kindersitze nicht funktioniert hätten. Der Dreipunktgurt schuf die technische Basis, auf der alle späteren Kindersitz-Konzepte aufbauen konnten. Volvo gab das Patent übrigens frei, damit alle Hersteller es nutzen konnten. Eine Entscheidung, die seither unzählige Leben gerettet hat.
Die Geschichte des Reboarders ist eine Geschichte voller Missverständnisse, hätte ich beinahe geschrieben, denn die Jahre, die nun folgen, haben mich bei meiner Recherche zum ersten Reboarder fast um den Verstand gebracht. Es gibt unzählige Webseiten, die die beiden nächsten Personen als die Erfinder des Reboarders bezeichnen, tatsächlich haben Beide offenbar einen Vorwärtssitz erfunden und patentieren lassen.
Das zeigen nicht nur die Beschreibungen und Klassifizierungen der Patente, sondern auch die Zeichnungen und Fotos der Sitze. Nichtsdestotrotz erzähle ich dir gleich von zwei Pionieren der Kindersicherheitstechnik, denn endlich beschäftigte sich jemand nicht nur mit dem Komfort, sondern auch mit der Sicherheit von Kindern im Auto. Insofern: Bühne frei für Jean und Leonard.
1961 Der wahre Anfang der Kindersitze: Eine Journalistin hat die zündende Idee
Die Geschichte der sicheren Kindersitze beginnt nicht mit einem Wissenschaftler oder Ingenieur (und ganz überraschend auch nicht in Schweden), sondern mit einer britischen Journalistin und Mutter namens Jean Ames. Sie hatte genug von den gefährlichen „Kindersitzen“ der letzten Jahre und meldete im November 1961 ein ➞ Patent an: Ein Patent für den wahrscheinlich weltweit ersten Kindersitz, der tatsächlich für Sicherheitszwecke konzipiert war. Ihr revolutionäres Design hatte einen Y-förmigen Gurt, eine gepolsterte Rückenlehne für den Kopf und eine durchdachte Kraftverteilung.
Ihre Motivation? Ihr Sohn Richard, der so sicher wie möglich im Auto mitfahren sollte. Eine typische Mutter, die das Beste für ihr Kind wollte, nur dass sie zusätzlich auch die technischen Fähigkeiten und den Mut hatte, selbst eine Lösung zu entwickeln. Jean war ihrer Zeit meilenweit voraus, aber die Welt hörte nicht zu. Ihre Erfindung verschwand zunächst in einer Schublade.
Erst 1965 erkannte die Firma D.C. Morley Engineering das Potential, lizenzierte ihre Erfindung und vermarktete den Sitz als den ersten Kindersitz der Welt. Sie nannten ihn „The Jeenay“ nach Jean Ames selbst. Ein schönes Detail: Der Jeenay konnte auch als Hochstuhl verwendet werden. Warum? Weil Jean verstanden hatte, dass Eltern praktische Lösungen brauchten. Ein Sitz, zwei Funktionen, das war 1965 ein geniales Verkaufsargument, das viele Eltern überzeugte, überhaupt einen Sicherheitssitz zu kaufen. Den Jeenay kannst du dir hier ansehen: ➞ KL Jeenay, ca. 1973.
Jean war allerdings nicht alleine mit ihrer Idee. Zwischen 1961 und 1965 machten sich noch weitere Menschen Gedanken über die Sicherheit von Kindern im Auto.
1962/63 Ein persönliches Drama führt zur nächsten Innovation
Zur gleichen Zeit, als Jean Ames ihre bahnbrechende Idee in Großbritannien zum Patent angemeldet hatte, entwickelte außerdem ein Ingenieur namens Leonard Rivkin in den USA den ersten amerikanischen Kindersitz, bei dem es nicht nur um den Komfort, sondern vorrangig um die Sicherheit der Kinder ging.
Anlass war ein Moment, der sein Leben verändert hatte. Es war 1958, Leonard Rivkin besaß zusammen mit seiner Frau Reva das Kindermöbelgeschäft „Guys and Dolls“ in Denver, Colorado. An einem ganz normalen Tag war die Familie mit ihrem kleinen Sohn Bart unterwegs, als ihr Auto von hinten gerammt wurde. Was dann passierte, würde Rivkin nie wieder vergessen: Bart wurde vom Rücksitz durch das ganze Auto geschleudert und landete – zum Glück unverletzt – vor den Füßen seiner Mutter auf dem Boden des Vordersitzes. Der kleine Junge schaute von unten zu seiner Mama hoch, ein Bild, das sich in Rivkins Gedächtnis einbrannte.
Der pensionierte Ingenieur tat, was Ingenieure in solchen Situationen tun müssen: Er suchte nach einer Lösung. „In jenen Tagen war ein Kindersitz nur ein Segeltuch-Beutel, der über die Rückenlehne gehängt wurde“, erinnerte sich Rivkin Jahre später. Das reichte ihm nicht.
Mit seinem technischen Hintergrund entwickelte er einen eisengerahmten Kindersitz mit einem revolutionären 5-Punkt-Gurtsystem, eine Innovation, die bis heute in praktisch allen Kindersitzen verwendet wird. 1963 erhielt er das Patent für seine Erfindung.
Was aus einem traumatischen Moment begann, wurde zu einer lebensrettenden Innovation. Leonard Rivkin wollte nie wieder erleben, dass ein Kind durch mangelnde Sicherheit zu Schaden kommt und seine Erfindung, der 5-Punkt-Gurt, sorgt bis heute dafür, dass Millionen von Kindern sicher ankommen.
Rivkins Verdienste sind unbestritten, doch auch er dachte Sicherheit noch vorwärts, wie du in der ➞ Beschreibung des Patents lesen und auf den technischen Zeichnungen zu seinem Patent sehen kannst.
Der wahre Durchbruch sollte von nicht ganz unerwarteter Seite kommen – genau, du ahnst es bereits: aus Schweden. 🇸🇪
Während Jean Ames in Großbritannien (1961-1963) und Leonard Rivkin in den USA (1963) bahnbrechende vorwärtsgerichtete Sicherheitssitze mit Y-Gurten und 5-Punkt-Systemen entwickelten, passierte in Schweden etwas anderes: Die Rückwärts-Revolution. Die Reboarder-Entwicklung zwischen 1962 und 1964 war eine rein schwedische Geschichte mit zwei bzw. drei unabhängigen Akteuren, fast zeitgleich, aber mit unterschiedlichen Ansätzen:
1964 Bertil Aldman und Volvo lernen von den Astronauten der NASA
Bertil Aldman: Merke dir diesen Namen, denn er wird dein Leben und das deines Kindes für immer verändern. Aldman war Ingenieur und Professor für Verkehrssicherheit an der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg. Durch seine enge Zusammenarbeit mit Medizinern und seine biomechanischen Kenntnisse verstand er die Schwachstellen des kindlichen Körpers, insbesondere von Kopf und Nacken, wie kaum ein anderer Forscher seiner Zeit.
Im Jahr 1964, während die Beatles die Welt eroberten und die NASA das Mercury-Programm vorantrieb, verfolgte Bertil gebannt die Weltraum-Berichterstattung.
Was ihn dabei völlig faszinierte: Die NASA-Ingenieure hatten herausgefunden, dass Astronauten die enormen Beschleunigungskräfte beim Start rückwärts liegend am besten überstehen – nicht etwa aus Bequemlichkeit, sondern aus purem Überlebenswillen.
Dieses Lehrvideo von 1964 stellt die Arbeit der NASA-Abteilung für Flugbesatzungs-Unterstützung vor und zeigt, wie Astronauten mit verschiedenen Simulatoren und Trainingsgeräten für die bevorstehenden Gemini- und Apollo-Missionen vorbereitet wurden:
„Moment mal“, dachte sich Aldman (wahrscheinlich auf Schwedisch ), wenn das gut für NASA-Astronauten ist, die mit unfassbarer Geschwindigkeit durch den Weltraum rasen, warum übernehmen wir das Prinzip nicht auch bei Kindern im Auto?“
Seine Idee: Kinder im Auto rückwärts transportieren. So würde die Aufprallenergie nicht auf den empfindlichen Nacken, sondern auf den gesamten Rücken, den Kopf und die Schultern verteilt. Diese Überlegung führte noch im selben Jahr zum ersten experimentellen Prototypen eines rückwärtsgerichteten Kindersitzes: Der erste Reboarder war geboren! 👶🐣 Und dieser Prototyp, inspiriert von den Sternen, hat die Kindersicherheit auf der Erde für immer verändert.
1964 Der historische Volvo PV 444-Moment
Aldman war Feuer und Flamme für seine Idee, noch im selben Jahr entwickelte er zusammen mit Volvo (und da sind wir wieder und immer noch in Schweden) den ersten rückwärtsgerichteten Kindersitz-Prototypen. Getestet wurde er in einem Volvo PV 444, dem Auto, das ebenso Geschichte schreiben sollte.
Das war kein Zufall: Der PV 444 war damals der perfekte Testwagen. Robust, zuverlässig und als „Sicherheitsvolvo“ bereits legendär: Das Fahrzeug, das bereits im September 1944 bei einer großen Auto-Ausstellung in Stockholm vorgestellt worden war und die Massenproduktion von Volvo in Gang brachte, war selbst ein Meilenstein der Sicherheit: Es war das erste Volvo-Auto mit selbsttragender Karosserie und einer Windschutzscheibe aus Verbundsicherheitsglas.
1964: Der erste Prototyp eines Reboarders 🐣
Vor allem aber war der PV 444 auch das Fahrzeug, das die Grundlage für den PV 544 bildete, jenes Modell, mit dem Volvo 1959 als erster Hersteller weltweit den serienmäßigen Dreipunkt-Sicherheitsgurt einführte.
Damit setzte Volvo einen neuen Maßstab für Fahrzeugsicherheit, Jahre bevor andere Hersteller diesem Beispiel folgten.
Volvo erkannte sofort, welches Potential Aldmans Idee hatte, denn Sicherheit war schon damals das Markenzeichen der Schweden, und die Zusammenarbeit mit Professor Aldman passte perfekt zur Firmenphilosophie.
Innerhalb kürzester Zeit entwickelten der Professor und Volvo den ersten Prototypen eines Reboarders und testeten diesen im PV 444 und seinem Nachfolger, dem PV 544.
Bis zur Marktreife des Sitzes sollte es allerdings noch ein paar Jahre dauern. Das Konzept des Rückwärtsfahrens allerdings lieh sich Volvo für eine vorerst andere Idee.
1967 Das clevere Umrüstkit, Volvo macht Rückwärtsfahren alltagstauglich
Drei Jahre vergingen, bis aus dem Prototypen eine vielleicht noch viel bessere Idee wurde: 1967 brachte Volvo ein Umrüstkit für die Modelle Volvo Amazon P 121 und den Volvo 144 auf den Markt.
Die Lösung:
Eltern schraubten den vorhandenen Beifahrersitz ab (4 Schrauben), drehten ihn um und befestigten eine speziell gepolsterte Aluminium-Rückenlehne mit Sicherheitsgurten. Das Kit kostete 115 SEK im Volvo-Zubehörkatalog (etwa 16 bis 18 € damals, heute inflationsbereinigt ca. 136 €).
Das war zwar noch kein eigenständiger Kindersitz, aber eine praktische Lösung, um Kinder zwischen 1 und 7 Jahren rückwärts transportieren zu können. Und sieh dir an, wie bequem es aussah!
Warum ausgerechnet der Beifahrersitz? Die Entscheidung war clever: Der Fahrer oder die Fahrerin konnte das Kind während der Fahrt im Blick behalten, ohne sich umdrehen zu müssen – und einen Sitz zu drehen war natürlich auch einfacher als die ganze Rückbank.
Gleichzeitig war das Ein- und Aussteigen vom Gehweg aus möglich – deutlich sicherer als an der Straßenseite. Und der größte Vorteil: Es brauchte keinen teuren Neukauf, sondern nur etwas Geschick.
Für viele schwedische Familien war das der Moment, in dem das Rückwärtsfahren für Kinder vom reinen Konzept zum Alltag wurde.
Der Erfolg war durchschlagend. Innerhalb weniger Jahre wurde das Kit zum Standard-Zubehör in schwedischen Volvo-Haushalten. Die Lösung war so praktisch, dass sie auch international Beachtung fand, auch wenn außerhalb Schwedens die Skepsis gegenüber rückwärtsgerichtetem Fahren noch groß war. Volvo hatte bewiesen: Sicherheitsinnovationen müssen nicht kompliziert oder unbezahlbar sein.
Manchmal reichen eine gute Idee, eine Aluminium-Rückenlehne und der Mut, einen Sitz umzudrehen.
Du konntest 1967 als Volvo-Fahrer/in in Schweden deinen Beifahrersitz in wenigen Minuten umrüsten und dein Kind rückwärts fahren lassen. Und der Rest der Welt? Hatte davon noch nicht einmal geträumt.
Oder vielleicht doch?
Gut, vielleicht nicht in der großen weiten Welt, aber – natürlich – in Schweden. Tatsächlich gab es zu dieser Zeit noch ein zweites Unternehmen, das bereits Mitte der 60er Jahre auf Reboarder setzte und diese parallel zu Volvo und Bertil Aldman entwickelte: Bröderna Ottosson.
1967 Bröderna Ottosson in Klippan: Der erste kommerzielle Reboarder
Klippan – das kennst du vielleicht als kleinen 8000-Seelen-Ort im südlichsten Zipfel Schwedens. Oder als Name eines Ikea-Sofas. Oder nur deshalb als Ort, weil du das Sofa kennst. Doch Klippan ist noch so viel mehr: Es ist der Geburtsort einer der wichtigsten Innovationen in der Kindersicherheit.
In diesem beschaulichen Ort tüftelten die Brüder Sven und Rune Ottosson parallel zu Volvo und Aldman am ersten kommerziellen Reboarder. Ihre Firma Bröderna Ottosson & Co war seit Jahren auf Gurte, Schlossmechanismen und Befestigungssysteme spezialisiert, sie kannten sich also bestens aus mit allem, was für die Sicherheit im Auto wichtig war.
Der Klippan "Barnstol" - eine Reboard-Revolution
Und während Volvo mit seinem Umrüstkit zunächst eine clevere Zwischenlösung schuf, arbeiteten die Ottosson-Brüder an einem eigenständigen Kindersitz, der von Anfang an für das Rückwärtsfahren konzipiert war.
Der Klippan Barnstol ( Barn = Kind, Stol = Stuhl) war eine technische Meisterleistung seiner Zeit: Der Sitz hatte eine gepolsterte Kopfstütze für mehr Komfort und seitlichen Halt für den Kopf und ein verstellbares Gurtsystem (ganz spannend: An den Schultern ein sich teilender Gurtansatz). Er war für Kinder bis zum Alter von ca. 5 Jahren geeignet und wurde mit Befestigungsgurten mit Karabinern an der Karosserie verzurrt, die Vorstufe unseres heutigen Low Tether-Systems mit den Haltegurten an Ösen im Fußraum oder den Bodenschienen im Auto.
Und natürlich war der Klippan Barnstol ein Reboarder, bei dem die Aufprallkräfte bei einem Frontalunfall optimal über den gesamten Rücken des Kindes verteilt wurden.
Was heute selbstverständlich klingt, war damals revolutionär, denn, wir erinnern uns, die meisten Kinder fuhren zu der Zeit nach wie vor entweder ungesichert oder mit provisorischen Lösungen im Auto mit.
"Vad säger pressen?" Die Medien sind begeistert vom Klippan Barnstol
Die Presse war begeistert vom Kindersitz der Brüder Ottosson. Die Automobilzeitschrift Motor schrieb: „En helt ny konstruktion, Klippans Barnstol, tillverkad av AB Bröderna Ottosson & Co, Klippan, finns nu att köpa.“ – „Eine völlig neue Konstruktion, Klippan Barnstol, hergestellt von AB Bröderna Ottosson & Co, Klippan, kann nun gekauft werden.“
Besonders eindrucksvoll berichtete die Zeitschrift ICA-Kuriren über einen Crashtest-Vergleich: Die Zeitung widmete dem Thema eine ganze Doppelseite über verschiedene Arten von Kindersitzen und stellte fest, dass es nur zwei Kindersitze gab, die als „rimliga“ (vernünftig) angesehen werden konnten. Die Zeitung zeigte einen Crash-Test, bei dem „föraren drog sig benbrott, revbensbrott och bäckenbrott medan den 18 månaders babyn satt kvar oskadad i sin testade ‚baklängesstol'“ – sich der Fahrer Bein-, Rippen- und Beckenbrüche zuzog, während das 18 Monate alte Baby in seinem getesteten ‚Rückwärtssitz‘ unverletzt blieb.
1967 Der Klippan Barnstol wird zum Referenz-Kindersitz
Der Klippan Barnstol war so überzeugend, dass er 1967 zur Grundlage für die zukünftige schwedische Kindersitz-Norm wurde. Im ➞ Klippan Journal 1/1967 wurde stolz verkündet: „Der Klippan Barnstol bildet die Grundlage für die künftige Kindersitz-Norm.“ Das war mehr als reines Marketing, es war die offizielle Anerkennung dafür, dass Bröderna Ottosson den Standard gesetzt hatten, an dem sich alle anderen messen lassen mussten.
In den Werbematerialien und Zeitungsartikeln der damaligen Zeit wurde immer wieder betont, dass kleine Kinder rückwärts fahren sollten und erklärt, warum das sicherer war:
„Fram- eller baklänges? Den ur skyddssynpunkt lämpligaste placeringen av stolen är baklänges.“
„Vorwärts oder rückwärts? Die aus Sicherheitsgründen am besten geeignete Platzierung des Sitzes ist rückwärts.“
„Barnets huvud i den aktuella åldern (1-4 år) är emellertid relativt tungt i förhållande till kroppen, varför risken för skador vid den senare placeringen är större.“
„Der Kopf des Kindes im betreffenden Alter (1-4 Jahre) ist jedoch relativ schwer im Verhältnis zum Körper, weshalb das Risiko für Verletzungen bei der späteren Platzierung [=vorwärts] größer ist.“
„föraren drog sig benbrott, revbensbrott och bäckenbrott medan den 18 månaders babyn satt kvar oskadad i sin testade ‚baklängesstol“
„der Fahrer sich Bein-, Rippen- und Beckenbrüche zuzog, während das 18 Monate alte Baby unverletzt in seinem getesteten ‚Rückwärtssitz‘ sitzen blieb.“
Du siehst hier einen Zeitungsartikel und Fotos aus den 60er Jahren und 70er Jahren:
Die Geschichte der Ottosson-Brüder ist eine Geschichte von Kontinuität und Leidenschaft. Das Unternehmen Bröderna Ottosson wurde später zur Marke Klippan, benannt nach dem kleinen Ort, in dem 1967 alles begann. 1987 verlagerte Klippan seinen Firmensitz nach Finnland, wo sie noch heute mit Hingabe Reboarder produzieren.
Während viele andere Hersteller in den 1970ern und 1980ern auf vorwärtsgerichtete Sitze setzten, weil sie einfacher zu vermarkten waren, blieb Klippan seiner Überzeugung in all den Jahren treu: Kleinkind-Sitze wurden immer rückwärts konzipiert, wenngleich es immer wieder Modelle gab, die auch vorwärts installiert werden konnten. Die Schweden und später die Finnen hielten die Fackel des Rückwärtsfahrens am Leben und entwickelten ihre Sitze kontinuierlich weiter, das Grundprinzip änderten sie jedoch nie.
Die Geschichte von Klippan kannst du dir in vielen Bildern von Kindersitzen aus den letzten Jahrzehnten auch bei Klippan auf der Webseite ansehen: ➞ Klippans Kindersitz-Geschichte Und weil ich so begeistert war, binde ich auch hier noch die schönsten Fotos ein. Einen Erfahrungsbericht zu einem aktuellen Reboarder von Klippan findest du auch bei mir auf der Seite, schau mal hier: ➞ Klippan Cargo: Babyschale und Reboarder in einem System.
Und manchmal sagen Bilder mehr als 1000 Worte :
Wahnsinnig toll, oder?
Keine Reboarder, aber auch aus den 60er Jahren: Erste Kindersitze von Britax
Und weil es in den 60er Jahren auch die ersten Sicherheitssitze in Fahrtrichtung gab und das nicht von irgendwem, sondern von der Marke, die wir heute als Britax-Römer (und auch für ihre Reboarder) kennen, darfst du dir diese Sitze auch ansehen und mit mir gemeinsam bestaunen.
Eine Reise in längst vergessene Zeiten – und ganz vielleicht weckt der schwarze Kindersitz mit dem orange-farbenen Tisch auch bei dir die ein oder andere Erinnerung an deine Kindheit? Oder an den Sitz deiner Eltern, der immer noch auf dem Dachboden steht.
Aber lass uns zurück nach Skandinavien gehen. Was passierte bei Volvo? Auch dort arbeiteten die Ingenieure längst an Aldmans großem Traum des Astronautensitzes für kleine Passagiere! 👨🚀👩🚀
1972 Der erste Reboarder von Volvo - und endlich auch für die breite Masse
Fünf Jahre nach dem Umrüstkit kam endlich der Durchbruch: Volvo brachte 1972 den ersten echten, eigenständigen rückwärtsgerichteten Kindersitz auf den Markt.
Nicht mehr nur ein Kit, sondern ein vollständiger Sitz für Kinder bis ca. 6 Jahre, den du einfach ins Auto stellen konntest. Der Reboarder war speziell dafür konzipiert, die Kräfte, die bei einem Unfall entstehen, großflächig zu verteilen.
Endlich war es so einfach wie nie zuvor: Kein Umbauen mehr, kein Schrauben, Sitz ins Auto einbauen und los (und nie wieder den Beifahrer-Sitz wieder zurückbauen müssen).
Volvo hatte Aldmans revolutionäres Konzept von 1964 zu einem Produkt für alle Familien gemacht und die Astronautensitze der NASA endgültig in die Kinderzimmer dieser Welt geholt 🚀
Wir schreiben das Jahr 1973. Die Welt erlebt gerade die erste Ölkrise, in Deutschland regiert Willy Brandt und Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid ahnen noch nicht, dass sie in nur einem Jahr weltberühmt sein werden.
Doch während Schweden längst auf Reboarder und ABBA setzt, sieht die Realität in Deutschland erschreckend anders aus – und das nicht nur, weil in den deutschen Charts Heino mit stoischer Ernsthaftigkeit Seemannslieder und Volksweisen trällert.
1973 Stiftung Warentest: Statt Sicherheit ein Haufen Schrott
Im Oktober 1973 führte die Stiftung Warentest ihren ersten großen Kindersitztest durch. Die Unfallstatistik in diesen Jahren war verheerend: 1971 starben auf deutschen Straßen 2.167 (!) Kinder, über 70.000 wurden verletzt. 354 Kinder starben als Mitfahrer in Autos, 162 davon waren jünger als sechs Jahre alt. Viele Eltern ließen ihre Kinder noch auf dem Schoß mitfahren, eine Praxis, die die Tester als „im höchsten Grad lebensgefährlich“ bezeichneten.
Das Testergebnis (➞ Heft 10/1973) war ein Schock: Von 15 geprüften Sitzen fielen 11 durch. Die beliebten Rohrgestellsitze, allesamt dünne Metallkonstruktionen, klappten im Crashtest schon bei geringen Geschwindigkeiten wie Kartenhäuser zusammen, zerbrachen oder knallten samt Kind gegen den Vordersitz.
Nur zwei Sitze bekamen die Note „Sehr gut“: Der Römer Peggy (100 Mark) und – Achtung: Der KL Jeenay Safety Seat (105 Mark). Ja genau, Jean Ames britische Erfindung! Während deutsche Rohrgestelle versagten, bewies der Jeenay – wenngleich vorwärts – dass gutes Design funktionieren konnte.
Dieser Test war ein Wendepunkt der modernen Kindersitz-Geschichte. Die Presse griff das Thema auf, Hersteller mussten reagieren. Schweden war zu dem Zeitpunkt schon Jahre voraus, in Deutschland kämpften wir noch mit den Basics und Heinos Enzian.
Zwischen Rohrgestell und Realität wurde klar: Wer Kinder schützen wollte, durfte nicht sparen, weder am Material noch an der Verantwortung. Der Crashtest war kein Test, er war ein Weckruf. Für Eltern, Hersteller und unsere ganze Nation.
Und während wir in Deutschland noch über unsere Rohrgestelle sprachen, setzten die Schweden bald Maßstäbe. Im Jahr 1975 – Heino war immer noch da und stand auf dem Höhepunkt seiner Karriere – machten sie Ernst.
1975 Schweden macht Ernst: Der T-Test
Die Schweden führten den T-Test ein, einen Crashtest, den jeder Kindersitz bestehen musste, bevor er im Land verkauft werden durfte. Kein Marketing-Gütesiegel, sondern gesetzliche Pflicht. Ohne bestandenes „T“ keine Zulassung, kein Verkauf auf dem schwedischen Markt.
Und welche Sitze bestanden den T-Test? Genau: nur Reboarder. Vorwärtsgerichtete Sitze scheiterten an den schwedischen Grenzwerten für den Kopf und den Nacken, sie waren zu gefährlich für kleine Kinder. Der T-Test bewies, was Aldman, Volvo und Klippan seit Jahren predigten: Nur das rückwärtsgerichtete Fahren schützt das empfindliche Genick wirklich.
Damit war der Reboarder in Schweden kein Nischenprodukt mehr, sondern Standard. Ein Wendepunkt, der die Weichen für Jahrzehnte stellen würde. Der T-Test prüfte Kindersitze strenger als alle anderen Tests zu dieser Zeit.
Erst Jahrzehnte später mit dem EU-Beitritt Schwedens und der Harmonisierung mit ihren nationalen Regelungen verschwand die nationale T-Regelung. Und bis es so weit war, trugen Kindersitze die Doppelkennzeichnung E+T. Apropos E-Zulassung: Es dauerte noch ganze 6 Jahre bis der Rest Europas bzw. die United Nations Economic Commission for Europe (UNECE) aus ihrem Dornröschenschlaf erwachten.
In der Zwischenzeit bleiben wir noch ein wenig – wie sollte es auch anders sein? – in Schweden, die dank ABBAs Waterloo den Grandprix 1975 ausrichten durften.
1976 Erste Sitzerhöhungen, Kindersitze für große Kinder
Nein, auch die Sitzerhöhung haben nicht wir Deutschen erfunden. Germany: 0 Points. Auch dieser Punkt geht wieder an unsere Freunde in Schweden, besser gesagt an Volvo. Volvo: 12 Points.
Während sich alle auf Kleinkinder konzentrierten, erkannte Volvo ein weiteres Problem: Was war mit den größeren Kindern? Ältere Kinder waren oft schon zu groß für Kindersitze, aber noch zu klein für den normalen Erwachsenengurt. Die Lösung folgte auf den Fuß.
Volvo führte die Sitzerhöhung ein, eine weitere Weltneuheit! Die Idee war genial einfach: Ein Sitz, der ältere Kinder so positionierte, dass der Erwachsenengurt optimal saß. Der Gurt sollte über die Schulter und nicht über den Hals laufen, und der Beckengurt sollte auf den Hüftknochen sitzen statt über den weichen Bauch zu laufen.
Das Ergebnis: Ein einfaches Kissen, das den Unterschied machte. Auch größere Kinder waren plötzlich deutlich besser geschützt als je zuvor.
Nur die Rückenlehnen, die später für einen besseren Seitenaufprallschutz sorgten, gab es Mitte der 70er Jahre noch nicht.
Die Schweden hatten mit den Sitzerhöhungen schon wieder ein Problem gelöst, an das der Rest Europas noch nicht einmal gedacht hatte, aber langsam, ganz langsam dämmerte auch uns, dass mit unseren Kindersitzen etwas nicht stimmte.
1980er Jahre: Reboarder werden langsam bekannter und der ADAC testet erstmals Kindersitze
Ganze Generationen schwedischer Kinder wuchsen mit Reboardern auf und die Unfallstatistiken sprachen eine klare Sprache: Es gab deutlich weniger schwere Verletzungen bei Kindern. Die schwedischen Hersteller verfeinerten ihre Sitze kontinuierlich: Die Sitze wurden sicherer, der Einbau einfacher und auch beim Design gingen die Hersteller mit der Zeit. Das Grundprinzip blieb aber: Rückwärts war sicherer als vorwärts.
Auch in Deutschland begann langsam ein Umdenken. In den frühen 1980er-Jahren führte der ADAC erste eigene Kindersitztests durch, zunächst noch in Zusammenarbeit mit dem TÜV und der DEKRA. Getestet wurden vor allem die damals noch immer weit verbreiteten Rohrgestell-Modelle, die sich in Crashtests oft als instabil oder schlecht konstruiert erwiesen. Die Ergebnisse sorgten für Aufsehen: Viele Sitze boten kaum Schutz beim Frontalaufprall, einige versagten sogar vollständig.
Diese frühen Tests markierten den Beginn einer neuen Sicherheitskultur: Zum ersten Mal rückte die Schutzwirkung von Kindersitzen in den Fokus der Öffentlichkeit. Der ADAC veröffentlichte die Ergebnisse in seiner Motorwelt und brachte damit das Thema Kindersicherheit auf die Titelseiten. Zwar fehlten noch einheitliche Prüfstandards und eigene Testanlagen, doch die Richtung war klar: Kindersitze sollten nicht nur bequem sein, sondern Leben retten.
Während der ADAC lautstark auf die Misere aufmerksam machte, wachte die Politik in Genf aus ihrem Tiefschlaf auf. Die Zeit des Wildwuchses sollte enden. Nur: Die erste internationale Kindersitz-Norm kam mit einem riesigen Haken zur Welt, der die Reboarder-Pioniere in Skandinavien zur Verzweiflung bringen sollte.
1981 Der Rest Europas wacht auf - ein bisschen: Die R 44
Wir schreiben das Jahr 1981, als sich auch international etwas bewegt. Helmut Schmidt regiert die Bundesrepublik, die Nation steht noch unter dem Schock des Attentats auf John Lennon im Dezember 1980 und aus irgendeinem Grund gibt es Heino immer noch, jetzt allerdings nicht mehr ganz oben in den Charts.
Am 1. Februar 1981 tritt die ➞ UN ECE-Regelung Nr. 44 (kurz: R 44) in Kraft, die erste international gültige Kindersitznorm. Endlich gibt es einen offiziellen Standard, der festlegt, wie sicher Kindersitze sein müssen. Das klingt nach einem Fortschritt, oder?
Ja – und nein. Die R44 war ein wichtiger erster Schritt, aber sie hatte einen Haken: Sie erlaubte es, Kinder bereits ab 9 Kilogramm Körpergewicht vorwärtsgerichtet fahren zu lassen. Neun Kilo, das erreichen viele Babys schon im Alter von acht bis neun Monaten. Viel zu früh, wenn man die schwedische Forschung kennt.
Die Norm unterteilte Kindersitze nach Gewicht in verschiedene Gruppen: Gruppe 0 (bis 10 kg), Gruppe 0+ (bis 13 kg), Gruppe I (9 bis 18 kg) und so weiter. Das Problem: Diese Gewichtseinteilung war unpraktisch und führte oft zu Fehleinschätzungen bei der Nutzung. Noch gravierender: Die Norm schrieb damals auch noch keinen echten Crashtest für den Seitenaufprall vor, lediglich eine statische Prüfung der Polsterung.
Während Schweden mit dem T-Standard streng auf das Rückwärtsfahren setzte, erlaubte die europäische ECE-Regelung genau das Gegenteil. Diese Diskrepanz zwischen schwedischer Wissenschaft und europäischer Gesetzgebung blieb über Jahrzehnte bestehen und erklärt, warum Reboarder außerhalb Skandinaviens so lange ein Nischenprodukt blieben. Vielleicht verschwand sogar ABBA aus diesem Grund für fast 30 Jahre von der Bildfläche…
1984 Maxi-Cosi revolutioniert den Markt: Die erste tragbare Babyschale
Während Schweden mit Reboardern für Kleinkinder voranschritt, passierte in den Niederlanden etwas, das auch die Sicherheit der Allerkleinsten in ganz Europa verändern sollte. Die Marke Maxi-Cosi brachte den „Maxi-Cosi Standaard“ auf den Markt, die erste tragbare Babyschale Europas.
Warum ich das erzähle? Streng genommen ist so eine Babyschale ja auch ein kleiner Reboarder. Zumindest stimmt die Fahrtrichtung und das Groteske: Bei der Babyschale hinterfragt die auch niemand während es bei Reboardern bis heute große Diskussionen gibt. Mein Lese-Tipp an der Stelle: ➞ Rückwärtsfahren ist nur für Babys
Was an der ersten Babyschale so besonders war? Bis Mitte der 80er Jahre waren viele Babys in Deutschland und anderen europäischen Ländern noch in ungesicherten Tragetaschen, im Kinderwagen-Aufsatz oder mit anderen provisorischen Lösungen unterwegs.
Die Idee von Maxi-Cosi war revolutionär einfach: Ein speziell für Neugeborene konzipierter Autositz, der maximale Sicherheit mit praktischer Handhabung vereinte. Du konntest dein Baby in der Schale aus dem Auto nehmen, ohne es zu wecken. Der Durchbruch kam, weil Maxi-Cosi wusste, dass sich Sicherheit nur dann durchsetzen würde, wenn sie sie mit etwas Praktischem verbinden würde.
Der Erfolg war überwältigend. Bis 1993 wurde Maxi-Cosi zum Marktführer in Deutschland und den Benelux-Ländern. Der Name „Maxi-Cosi“ wurde sogar zum Deonym für die Babyschale so wie „Tempo“ für Taschentücher. Bis heute sagen viele Eltern „Maxi-Cosi“, auch wenn sie eine andere Marke meinen. Wir im Kindersitz-Bereich schmunzeln regelmäßig, wenn Eltern so etwas sagen wie „ich habe einen Maxi-Cosi von Cybex“ oder „ja, genau, ein Maxi-Cosi von Maxi-Cosi“
Und die Skandinavier? Die arbeiten weiter an Reboardern, aber nicht nur in Schweden, sondern auch in Norwegen. 🇳🇴
1985 Die wahrscheinlich erste Sitzerhöhung mit Rückenlehne
Kurzer Einschub im Rahmen meines Artikels über die Geschichte von Volvo des Reboarders: 1985 stellt Volvo höchstwahrscheinlich wieder als erstes Unternehmen (ich habe jedenfalls keine abweichende Information gefunden) die zweite Generation der Sitzerhöhungen vor, Sitzkissen mit Rückenlehne. Wo sind eigentlich ABBA und Heino? 🕵️♂️
Aber zurück nach Norwegen:
1989 Der erste Reboarder von BeSafe
Mit BeSafe, damals noch unter dem Namen HTS, betritt 1989 ein weiterer Pionier die Reboarder-Bühne. Auch das norwegische Familienunternehmen setzte schon früh auf rückwärtsgerichtete Kindersitze und wurde dafür, wie sie selbst schreiben, belächelt, kritisiert und nicht ernst genommen.
HTS Trio Trygg - weil Rückwärtsfahren am sichersten ist
1989 entwickelte Hans Kristian Torgersen, der Inhaber, gemeinsam mit seinem Produktmanager Frank Lilleheil den HTS Trio Trygg, einen Reboarder, der bewusst mit und für größere Kinder beworben wurde. Schließlich sollten und sollen Kinder möglichst lange rückwärts und damit sicherer im Auto mitfahren können.
Das Mädchen auf dieser alten Anzeige, Anja, fast 3 ½ Jahre alt ( „Anja, nesten 3 ½ år“) sagt, sie habe sich bewusst für den Trio Tryyg entschieden, schließlich sei er am sichersten („Jeg falt for Trio-Trygg – den er jo sikrest„). Der Satz „Ta vare på det kjæreste du har…“ – Achte gut auf das Liebste, was du hast – hat bis heute nicht an Wichtigkeit verloren, denn er erinnert uns alle noch einmal daran, dass ein Kindersitz kein gewöhnliches Produkt ist, sondern ein Sicherheitsartikel, der im Ernstfall das Leben unserer Kinder retten können muss. Damals wie heute.
Und können wir bitte kurz festhalten, wie farbenfroh dieser Bezug war? Das Muster ist ein absoluter Blickfang, ein wildes, fröhliches Design, wie gemacht für kleine Abenteurerinnen und Abenteurer. So viel Mut zur Farbe wäre heute – neben all dem schwarzen, grauen und braunen Einheitsbrei – revolutionär!
Ich finde, BeSafe sollte diesen Bezug zum nächsten Jubiläum unbedingt neu auflegen. Als Hommage an die Anfänge ihrer Reboarder-Ära und an die unbeschwerte Leichtigkeit der 80er Jahre. Ich wette, es wäre ein riesiger Erfolg!
Apropos Erfolg: Der BeSafe Kid war damals der erste Kindersitz, der den schwedischen Plustest bestanden hat (➞ VTI-0001) und die Modelle der Marke erzielen bis heute regelmäßig sehr gute Noten in den ADAC-Kindersitztests, zuletzt beispielsweise das ➞ Beyond-System.
Vom Pioniergeist zum Vorreiter in puncto Sicherheit
Über 30 Jahre nach dem Trio Trygg gehört BeSafe heute zu den größten und bekanntesten Reboarder-Herstellern der Welt und setzt sich wie kaum eine andere Marke mit Herzblut und Leidenschaft dafür ein, dass Kinder möglichst lange rückwärts und so viel sicherer unterwegs sind.
Aber zurück in die Geschichte der Kindersicherheit:
Was in Schweden und anderen Teilen Skandinaviens mittlerweile Standard war, brauchte im Rest Europas noch Jahrzehnte, um als fast selbstverständlich zu gelten. BeSafe hielt durch und wurde damit zum Symbol dafür, dass Sicherheit keine Frage der Mode ist, sondern eine der Haltung.
Und jetzt? Jetzt springen wir gleich fast ein Jahrzehnt nach vorne zu einer Erfindung, die wir heute in jedem Neufahrzeug finden können: zum Isofix. Vorher wagen wir aber noch einen kurzen Blick nach Deutschland.
1993 Einführung der Kindersitzpflicht in Deutschland
Während in Skandinavien weiter am Reboarder gefeilt wurde, führten wir in Deutschland im April 1993 die Kindersitzpflicht für Kinder bis zu einer Größe von 150 cm ein.
Die Akzeptanz: Gering. Das zeigen auch Kampagnen aus den frühen 90er Jahren, hier zum Beispiel in der ADAC Motorwelt aus dem Jahr 1993. „Wir fahren nie mehr ohne unseren Sitz!“ hieß es und es sollte noch eine ganze Weile dauern bis Kindersitze eine breite Unterstützung in der Bevölkerung finden sollten.
1997 Die Geburtsstunde von ISOFIX
Wir schreiben das Jahr 1997. Seit Bertil Aldman Fernsehübertragungen über Astronauten gesehen hat, sind über 30 Jahre vergangen. Klippan tüftelt nach wie vor an immer sichereren Reboardern, Volvo klärt über das Rückwärtsfahren auf, in den Niederlanden wurde die Babyschale erfunden, BeSafe entwickelt weiter sichere rückwärtsgerichtete Kindersitze in Norwegen und jetzt kommen endlich auch wir Deutschen zum Zug!
Volkswagen und Britax Römer präsentierten 1997 auf der IAA den ersten serienreifen Isofix-Kindersitz, den ➞ Römer Prince Isofix.
Schon seit Anfang der 90er-Jahre hatten VW, Britax Römer, BMW und Renault an diesen Befestigungspunkten gearbeitet. Das Kindersitz-Klick-System aus zwei fest im Fahrzeug verschweißten Metallbügeln war das Ergebnis einer internationalen Gemeinschaftsleistung.
Später kam noch die ISO in Genf ins Spiel: Sie koordinierte die verschiedenen Ansätze und goss sie 1999 in die internationale ➞ Norm ISO 13216. Mit ihr entstand auch der Name Isofix, ein Kunstwort aus ISO (Norm) und fix (= befestigen – und schnell ist es nebenbei auch).
Die Idee und Entwicklung lagen bei der Industrie, maßgeblich getragen von europäischen, insbesondere deutschen, Ingenieuren. Die ISO setzte den offiziellen Rahmen und machte das System international kompatibel.
Warum eigentlich? Weil es damals wie heute allerhand Studien gab, die feststellten, dass nicht die Konstruktionen der Kindersitze das Problem waren, wenn diese bei Unfällen versagten, sondern wir, der Mensch. Fehler beim Einbau, ein falsch geführter Gurt – all das führte dazu, dass die Kindersitze unsere Kinder immer noch nicht ideal schützen konnten. Isofix war die Antwort auf ein Sicherheitsdilemma, das nicht technischer Art war, sondern menschgemacht.
Und immerhin ist es ein kleiner Erfolg, dass die ➞ UdV bei ihrer Fehlbedienungsstudie zu Kindersitzen 2018 festgestellt hat, dass bei der Verwendung von Isofix „nur“ noch 33 % der Babyschalen und Kleinkind-Kindersitze falsch eingebaut werden verglichen mit 62 % beim Einbau mit dem 3-Punkt-Autogurt. Der Faktor Mensch lässt sich offenbar auch 20 bis 30 Jahre später nicht so einfach fixen wie wir uns das wünschen würden.
Doch zurück in die Geschichte: Isofix sollte alle unsere Einbau-Probleme lösen und gab endlich einen Punkt für Deutschland! Aber unabhängige Prüfer erkannten fast gleichzeitig noch ein anderes Problem: Die gesetzlichen Standards reichten hinten und vorne nicht, um wirklich sichere Sitze zu garantieren.
Es wurde Zeit für echte Tests und natürlich mischten sich da zwei deutsche Institutionen ein, die bei vielen Kindersitzherstellern bis heute gefürchtet sind.
2003 Das europäische Testbündnis aus Stiftung Warentest, ADAC, ÖAMTC und TCS
Du ahnst sicher, von wem ich spreche: Der ADAC und Stiftung Warentest entwickelten ein eigenes, unabhängiges Testprogramm – und dieses Programm sollte die gesamte Industrie auf den Kopf stellen.
Stiftung Warentest hatte die Nation schon 1973 mit ihrem ersten großen Kindersitztest in Atem gehalten (von 15 getesteten Sitzen waren 11 durchgefallen – ein Desaster). Der ADAC begann bereits in den 80er Jahren mit Kindersitzprüfungen, damals noch in Kooperation mit dem TÜV, der Dekra und eben jener Stiftung Warentest und noch ohne eigene Anlage.
Erst mit dem neuen Technikzentrum in Landsberg am Lech (1997) und der dort gebauten Crashtest-Anlage (1999) konnte er Sitze unter realistischen Bedingungen selbst testen.
Ab 2003 entstand ein echtes Schwergewicht: ADAC, ÖAMTC (Österreich), TCS (Schweiz) und Stiftung Warentest schlossen sich zusammen und testen seither zweimal jährlich gemeinsam Kindersitze – ein europäisches Testbündnis, dessen Urteile bis heute über Erfolg oder Misserfolg eines Sitzes entscheiden können.
Die gemeinsame Testserie war von Beginn an deutlich strenger als jede gesetzliche Prüfung. Während die ECE-Norm damals lediglich einen Frontalaufprall mit 50 km/h vorsah und den Seitenaufprall gänzlich ausklammerte, testete der ADAC bereits mit höheren Geschwindigkeiten und realitätsnäheren Szenarien.
Der Seitenaufprall-Test war auf der Anlage in Landsberg längst Standard, obwohl er – auch auf Drängen der Test-Institute – in der Gesetzgebung erst ab 2013 berücksichtigt wurde. Die ADAC-Crashtests orientierten sich an typischen Unfallmustern und zeigten deutlich: Viele Kindersitze erfüllten zwar die gesetzlichen Mindestanforderungen, boten aber keinen ausreichenden Schutz.
Schau dir mal dieses Video aus dem Jahr 2006 an (gerade 20 Jahre alt, aber es fühlt sich an wie aus einer anderen Welt 😂🧓) – schon damals erklärte der ADAC, wie wichtig neben ihren Testergebnissen ein Probe-Einbau von Kindersitzen und das Probesitzen im Sitz sind.
Und sie warnten vor gruppenübergreifenden Sitzen und ebenso deutlich vor mangelhaften Kindersitzen:
Über die Jahre passten die Institute ihre Testmethodik immer wieder den aktuellen Sicherheitserkenntnissen an:
- 2003–2006: Beginn der Kooperation. Erste Crashtests im ADAC-Technikzentrum Landsberg, Testfahrzeug Opel Astra H.
- 2007–2010: Einführung von 64 km/h Frontal- und 50 km/h Seitenaufprall, deutlich über dem damaligen ECE-Niveau.
- 2011–2014: Erweiterung um Schadstoffprüfungen. Wechsel des Testfahrzeugs auf VW Golf VI.
- 2015–2019: Methodenreform mit realistischeren Q-Dummys, Seitenaufprall inklusive Türintrusion, strengere Bewertung bei Bedienfehlern. Testfahrzeug: VW Golf VII.
- 2020–2024: Modernisierung mit VW Polo VI, neue Sitzpositionen, zusätzliche Prüfaufbauten für Ergonomie und Handhabung.
- Ab 2025: Paradigmenwechsel in der Crashmethodik: Frontalaufprall mit 50 km/h gegen eine starre Barriere ohne Knautschzone, Seitenaufprall mit 60 km/h durch einen sechs Tonnen schweren Rammbock. Testfahrzeug: Kia Sportage.
Mehr als zwei Jahrzehnte hinweg blieb ein Grundsatz jedoch unverändert: Die ADAC-Kindersitztests lagen stets mindestens eine Stufe über den gesetzlichen Anforderungen.
Was heute in der ECE R129-Norm verbindlich geregelt ist – zum Beispiel Seitenaufpralltests, Q-Dummys, die Rückwärts-Pflicht für Kleinkinder – wurde in dieser Testreihe lange zuvor praktisch erprobt. Während in Brüssel und Genf noch an Formulierungen gefeilt wurde, krachten in Landsberg bereits die Fahrzeuge – und das ziemlich laut. Und wenn ein Sitz im Test durchfiel, war das nicht nur ein schlechtes Ergebnis, sondern immer ein klarer Hinweis darauf, dass die gesetzliche Zulassung allein nicht eben nicht ausreicht.
Aber wie so oft in der Kindersicherheit gab es da jemanden, dem selbst die harte deutsche Prüfstelle noch zu lasch war. Kaum hatte der ADAC seinen ersten Crash-Test-Ruhm genossen, kamen – Überraschung! – die Schweden. 🇸🇪 Und nein, dieses Mal nicht ABBA, noch nicht, und sie sagten. „Ja, wirklich schöne Tests, Deutschland, aber wollt ihr mal sehen, wie das richtig geht?“
2007 Der schwedische Plustest 🇸🇪
Wir schreiben das Jahr 2007. Die Schweden hatten angekündigt, es besser zu machen und jetzt liefern sie. Keine neuen ABBA-Songs, aber mit dem Plus-Test den vielleicht härtesten Kindersitztest der Welt.
Der Hintergrund: Seit Schwedens EU-Beitritt am 1. Januar 1995 galt eine Übergangsphase, in der Kindersitze dort sowohl nach dem strengen schwedischen T-Standard als auch nach der europäischen ECE-Norm (E+T-Doppelzulassung) zugelassen wurden. Doch 2008 sollte der T-Standard eingestellt werden, eine Folge der EU-Harmonisierung. Die Schweden brauchten dringend einen neuen Test, der ihre jahrzehntelangen Sicherheitsbedenken gegen vorwärtsgerichtete Sitze wissenschaftlich untermauern und ihren kompromisslosen Anspruch auf Kindersicherheit auch nach Ende des T-Standards garantieren konnte.
Deshalb: Der Plus-Test. Und falls du dachtest, der T-Standard wäre hart gewesen, der ➞ schwedische Plus-Test ist noch strenger.
Alles, was zählt: Das Genick
Der Plus-Test ist ein freiwilliges Prüfverfahren mit einem einzigen, kompromisslosen Fokus, der Belastung der Halswirbelsäule bei einem schweren Frontalaufprall.
Seit einer Änderung im Jahr 2023 prüfen sie zwar zusätzlich, wie robust ein Kindersitz ist, aber das ist vielleicht dem Umstand geschuldet, dass jahrelang nachgefragt wurde, warum eigentlich genau nur das eine zählt und sonst gaaar nichts.
Während andere Tests allerdings meist sehr viel mehr Kriterien prüfen und diese dafür meist nicht so streng, konzentrieren sich die Schweden mit der Präzision eines Lasers auf genau diese eine Frage: Wie stark wird der Nacken des Kindes belastet?
Der Bremsweg beim Test ist kurz und die Grenzwerte für die Nackenbelastungskräfte sind niedrig, – so niedrig, dass bis heute kein vorwärtsgerichteter Kindersitz diesen Test bestanden hat.
Und seit 2023 könnte es auch keiner mehr, denn mittlerweile dürfen vorwärtsgerichtete Kindersitze aus konzeptionellen Gründen nicht mehr zum Test antreten (➞ FAQ VTI-Plustest).
Keine douze points für Schweden - aber dix
Der Plus-Test hat allerdings auch eine Schwäche, er testet ausschließlich Frontalcrashs. Seitenaufprall? Fehlanzeige. Der VTI begründet das damit, dass Frontalcrashs „the most severe and common crash type“ sind, die schwerste und häufigste Unfallart, was natürlich richtig ist. Reboarder würden durch ihre robuste Struktur auch bei Seitenaufprall-Ereignissen gut schützen, heißt es. Das ist so und das belegen auch die ADAC-Kindersitztests, aber separat überprüft wird es beim Plustest eben nicht.
Deshalb: Der schwedische Plus-Test ist zwar der härteste Test für Frontalcrashs, aber er sollte nicht dein einziges Entscheidungskriterium für die Auswahl eines Reboarders sein. Schau dir auch die ADAC-Tests an, in Landsberg werden auch Seitenaufprall-Szenarien getestet und das nicht nur theoretisch. Und: Kauf bitte sowieso keinen Kindersitz nur deswegen, weil er ein Siegel hat oder einen Test gewonnen hat, weil: ➞ Ist nur ein Mythos mit den Testsiegern. Amen.
Mehr zum schwedischen Plustest:
2007 setzte Schweden mit dem Plus-Test ein Ausrufezeichen. Die Botschaft an die Welt: So geht Kindersicherheit! Es sollte noch sechs weitere Jahre dauern bis die UN nachzog und dann mit einem Ergebnis, das aus schwedischer Sicht bestenfalls ein schlechter Kompromiss war.
2013 ECE R 129: Guten Morgen, UN 🇺🇳
Wir schreiben das Jahr 2013. In Deutschland regiert Angela Merkel (immer noch und schon wieder). Und: Heino ist auch wieder da. Der Volksmusik-Barde covert plötzlich Rammstein und Die Ärzte und alle sind hochgradig irritiert. Und dann, mitten in Heinos musikalischer Neuverwirrung, passiert endlich etwas Wichtiges: Nach fast 50 Jahren schwedischer Pionierarbeit führt die UN die Kindersitz-Norm R 129 ein, die das Rückwärtsfahren bis mindestens 15 Monate zur Pflicht macht.
Klingt gut? Ist es auch. Zumindest besser als die 9 kg-Regelung aus der R 44. Aus schwedischer Sicht war die R 129 gelinde gesagt ein Witz – in großen Teilen Skandinaviens fahren viele Kinder seit Jahrzehnten bis 4, 5 oder 6 Jahre rückwärts. Die neue Regelung war also eher ein erster zaghafter Schritt als eine Kindersicherheits-Revolution.
Immerhin: Jetzt gab es vorgeschriebene Seitenaufprall-Tests und sensiblere Dummys. Und nun mussten auch deutsche, spanische, französische usw. Eltern ihre Kinder in den ersten 15 Monaten rückwärts fahren lassen. Ein Anfang.
Mussten? Ja, aber zunächst nur in der Theorie und dann, wenn sie einen Kindersitz kauften, der nach der neuen Norm zugelassen war. Denn die alte R 44-Norm blieb parallel bestehen und mit ihr die Möglichkeit, Kinder viel zu früh vorwärts zu drehen, sogar noch in Sitzen, die nach 2013 neu zugelassen wurden.
Erst 2023 war Schluss mit diesem Relikt der 80er Jahre. Und auch da wieder nur halbherzig. Im Gegensatz übrigens zu Heino, der sich mit 74 Jahren endlich angekommen sah und dem 2013 trotz oder gerade wegen aller Irritationen mit Platz 1 der deutschen Album-Charts sein größter kommerzieller Erfolg gelang.
Zwei Jahre später, während die UN-Norm ganz langsam Fahrt aufnahm, zeigte Volvo – mittlerweile in chinesischer Hand, aber weiterhin schwedisch im Herzen 🇸🇪💜- der Welt, wie Kindersicherheit wirklich aussehen könnte.
2015 Volvo bringt das All ins Auto ![👨🚀]()
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51 Jahre nach Bertil Aldmans NASA-inspiriertem Prototypen schließt sich der Kreis und zwar auf die spektakulärste Art, die du dir vorstellen kannst. Im Juli 2015 präsentiert Volvo das Excellence Child Seat Concept für den viersitzigen XC90 Excellence, und es sieht aus, als hätte Elon Musk persönlich einen Baby-Thron für die Reise zum Mars entworfen.
Die Idee: Der Beifahrersitz verschwindet komplett und an seiner Stelle thront ein drehbarer Kindersitz für Babys und Kleinkinder, der sich mit einem eleganten Schwenk gegen den Uhrzeigersinn zur Tür dreht, das Kind aufnimmt und sich im Anschluss zurück in der rückwärtsgerichteten Position arretiert.
Der Clou: Eltern auf der Rückbank haben permanenten Augenkontakt zu ihrem Nachwuchs, beheizte Getränkehalter halten das Fläschchen warm, und unter dem Sitz gibt es mehr Stauraum für Windeln und Schnuller als im gesamten dm-Markt. Plus: Das Kind sitzt genau dort, wo 1964 alles begann, auf dem rückwärts gedrehten Beifahrerplatz. Back to the roots, aber mit 51 Jahren technischem Vorsprung.
Volvo und Aldman hatten 1964 von den Astronauten gelernt, wie Menschen G-Kräfte überleben. 2015 zeigten sie, dass Rückwärtsfahren nicht nur sicherer, sondern auch verdammt luxuriös sein kann. Von der NASA-Kapsel zur automobilen Wellness-Lounge, manchmal dauert es ein halbes Jahrhundert bis aus einer guten Idee eine perfekte wird.
Das Konzept ging nie in Serie (zu teuer, zu speziell, zu visionär), aber es bewies: Volvo hatte die Vision von Bertil Aldman nie vergessen. Und wenn autonome Autos auch bei uns Realität werden, könnte dieses Konzept sein Comeback feiern. Dann, ja dann fahren wir vielleicht alle rückwärts und sitzen wie Astronauten auf dem Weg in ihre Zukunft.
Und an dieser Stelle hätte ich die Geschichte des Reboarders auch enden lassen können. Mit einem futuristischen Konzept, das zeigt, wohin die Reise – vielleicht – geht. Mit der Gewissheit, dass Rückwärtsfahren kein Nischenthema mehr ist, sondern die Zukunft der Kindersicherheit. Es wäre ein schöner Schlusspunkt gewesen. Aber: Geschichte endet nie so rund, wie wir es uns wünschen.
Und außerdem war da ja doch noch etwas…
2021 ABBA ist zurück
Fast 40 Jahre nach ihrer Trennung melden sich ABBA 2021 mit dem Album „Voyage“ zurück und die Welt dreht kollektiv durch. Und wenn ABBA nach 40 Jahren zurückkommen können und die Charts stürmen, gibt es Hoffnung. Und manchmal, da wird aus Hoffnung auch Realität.
2023 Tschüss R 44
Am 1. September 2023 passierte erneut etwas Historisches: Der Verkauf von Kindersitzen, die nach der ECE R44/04-Norm zugelassen waren, wurde offiziell eingestellt, Lagerware durfte im Anschluss noch ein Jahr lang abverkauft werden.
Nach über 40 Jahren war endlich Schluss mit der Norm, die Kinder ab 9 kg vorwärts fahren ließ. Das Ende einer Ära und der endgültige Sieg der schwedischen Forschung über die alte europäische Praxis. Oder sagen wir: Fast. Ein bisschen jedenfalls. Die alten R 44-Sitze dürfen natürlich weiter genutzt werden, es bleibt also genug Raum, um die Geschichte der Reboarder weiter zu schreiben.
Und genau hier beginnt dein Teil der Geschichte…
Ihr Vermächtnis und unsere Verantwortung
Über 60 Jahre nach Bertil Aldmans Blick zu den Sternen ist Rückwärtsfahren noch immer nicht überall angekommen. Selbst in Schweden, dem Ursprungsland der Reboarder, sitzen laut einer Folksam-Studie von 2022 nur noch 29 % der Vierjährigen rückwärts. Das zeigt: Die Idee ist da, es gibt die Möglichkeiten, aber Reboarder brauchen noch Rückenwind.
Von der NASA-Kapsel 1964 bis heute war es ein langer Weg. Immer mehr Eltern entscheiden sich bewusst dazu, ihre Kinder länger rückwärts fahren zu lassen, aber es sind noch zu wenige.
Danke
Diese Geschichte hier wäre nie geschrieben worden ohne Menschen wie Bertil Aldman, die Brüder Ottosson, Jean Ames, Leonard Rivkin und die Ingenieurinnen und Ingenieure bei Volvo, bei BeSafe oder bei Klippan. Ohne den Einsatz von Stiftung Warentest, ohne die Bemühungen des ADAC, des ÖAMTC, des TCS und die all ihrer Partner-Institutionen in ganz Europa.
Aber auch andere haben diese Geschichte mitgeschrieben: Die, die ich nicht erwähnt habe wie Axkid, Avionaut, Cybex, nachfolger oder Kiddy. Die, die ich vergessen habe und die, die ich wegen des ohnehin schon ausufernden Artikels unterschlagen habe oder weniger ausführlich behandelt habe als ich es vielleicht gerne hätte. Und die Namenlosen: All die Entwicklerinnen und Entwickler, die nachts an Prototypen tüftelten und heute noch tüfteln. Die Menschen, die in Arbeitsgruppen und Komitees an den Kindersitz-Normen gearbeitet haben und immer noch arbeiten und sich Tag für Tag einer überbordenden Bürokratie ausgesetzt fühlen und denen unter ihnen, die gerne mehr erreicht hätten – ich sehe euch. Wirklich. Die Eltern, die in den 70er Jahren als Erste ihre Kinder rückwärts fahren ließen und dafür belächelt oder kritisiert wurden. Die, die es heute machen und das oft noch immer gegen Widerstände von außen. Die Händlerinnen und Händler, die an die Idee glaubten und immer noch glauben. Die Crashtest-Technikerinnen und -Techniker, Forscherinnen und Forscher. Die Medizinerinnen und Mediziner, die Physikerinnen und Physiker. Jede Person, die einen Reboarder gekauft oder auch nur eingebaut hat, der Freundin, seiner Oma oder dem Postboten vom Rückwärtsfahren erzählt hat oder ein Kind sicher nach Hause gebracht hat – ihr alle seid Teil dieser Geschichte.
Und wir alle können diese Geschichte hier weiterschreiben. Mit jeder Autofahrt, mit jedem Gespräch, mit jedem Flyer, mit jedem Link zu einem Text oder einem Video über Reboarder.
Oder um es mit ABBA zu sagen: I have a dream. Bertil Aldman hatte einen Traum, als er 1964 die Astronauten sah. Und heute träumen wir weiter – von einer Zukunft, in der jedes Kind sicher ankommt.
Thank you for the music
Über die Chronistin: Kerstin ist Kaffee-Junkie, Kindersitz-Coach, Mama von sieben Kindern und wahrscheinlich die Einzige, die Reboarder, ABBA und Heino in einer gemeinsamen Geschichte unterbekommt. Wenn sie nicht gerade Kindersitze testet und vorstellt, schreibt sie wahrscheinlich die Pop-Geschichte der Verkehrssicherheit weiter – mit viel Kaffee, zu wenig Kuchen und immer mit einer Prise Humor.
Quellen und weiterführende Informationen zur Kindersicherheit
- Folksam 2022: "Föräldrar i Sverige byter till framåtvänd bilbarnstol för tidigt" (Eltern in Schweden steigen zu früh auf vorwärtsgerichtete Autositze um)
- Klippan Firmen-Geschichte, 1962 bis heute
- Patent GB954816A - Frederick John Ames, 1961
- Patent US3107942A - Leonard Rivkin, 1963
- Stiftung Warentest, Der historische Test (10/1973): "Autokindersitze - statt Sicherheit ein Haufen Schrott"
- UN-ECE-Regelungen, Übersicht
- Volvo: "Eine Tradition der Innovationen bei der Kindersicherheit"
- Volvo: "Sicherheit ist Teil unserer DNA"
- VTI Schweden: Fragen und Antworten zum schwedischen Plustest
- VTI Schweden: Kindersitze mit Plustest-Siegel